Auf dem Meer
Hallo Citare,
ich habe solche Bilder schon lange in mir und als sie in mir auftauchten, habe ich einige Geschichten darüber geschrieben. Denn mich beschäftigt in dem Zusammenhang auch die Frage: Wo komme ich her - wo bin ich jetzt - und wo gehe ich hin. Und weil es so schön passt, möchte mal ein paar Auszüge aus den Geschichten hier rein stellen:
Als kleines Kind segelte sie los. Irgendwann, niemand vermag mehr zu sagen wann und warum es geschah, setzte man sie in ein kleines weißes Boot und ließ sie in die Weite des Meeres gleiten. Sie konnte nicht segeln, niemand brachte es ihr bei, doch die Götter waren ihr wohl gesonnen und so geriet sie anfänglich nie in einen schweren Sturm. Alleine und verlassen schaukelte ihr Boot über die Wellen, umschiffte alle Untiefen und Riffe und mit der Zeit lernte das kleine Mädchen immer besser, mit dem Boot umzugehen, es verstand zu navigieren, kannte Wind und Wetter und fürchtete sich nicht mehr vor der Einsamkeit und der Dunkelheit.
So segelte sie viele Jahre an den Küsten entlang bis ihr Boot eines Tages an eine kleine grüne Insel gelangte. Diese Insel war so schön, so freundlich und einladend das das Mädchen dort ihren Anker auswarf und als ihre nackten Füße den weichen, festen Boden betraten, erst da spürte sie wieder, wie sehr ihr das Land gefehlt hatte und sie überlegte, für immer dort zu bleiben.
Sie baute sich eine Hütte und viele Jahre lebte sie zufrieden auf dem hübschen Eiland. Sie wuchs heran, doch erwachsen wurde sie nicht – es gab keinen Grund dafür auf dieser Insel. Eines Tages stieg die junge Frau wieder einmal auf einen Hügel und mit erschrecken bemerkte sie, dass die Insel sich verändert hatte. Die einst so grüne Insel war kahl und öde, es wuchsen kaum noch Bäume dort, sie hatte sie mit der Zeit fast alle abgeholzt für ihre Hütte, für Möbel und Brennholz, ohne darüber nachzudenken das die Vorräte eines Tages erschöpft sein würden, denn es war ja nur eine Insel auf der sie lebte – das hatte sie beinahe vergessen. Sie wurde traurig und nachdenklich und eine nie gekannte Unruhe breitete sich in ihr aus. Sie spürte, sie würde nicht bleiben können, sie überlegte lange Zeit doch eines Tages setzte sie sich in ihr Boot, lichtete den Anker und segelte los – zu unbekannten Gefilden. Als sie die Insel, die ihre Heimat geworden war, langsam kleiner werden sah, tat ihr Herz weh und sie bedauerte sehr, wie unbedarft sie mit diesem Fleckchen Land, das ihr immer Sicherheit geboten hatte, umgegangen war.
Doch als die Insel am Horizont verschwunden war, verspürte sie plötzlich wieder dieses lang vergessene Freiheitsgefühl. Sie blickte nicht zurück und niemals bereute sie, zu neuen Ufern aufgebrochen zu sein. Das Meer war glatt und sie wagte sich so weit in den Ozean hinaus wie nie zuvor. Sie segelte und segelte und mit jedem Tag lernte sie mehr über die Weite die sie umgab. Sie fühlte sich frei und sicher, nachts schaute sie in den Sternenhimmel und tagsüber genoss sie die warme Sonne - sie hatte kein Ziel und sie steuerte ihr kleines Boot immer weiter hinaus.
Und als eines Morgens die Sonne über dem dunstigen Horizont aufstieg, sah die Frau in weiter Ferne etwas aus dem Meer aufragen. In diesem Moment war es vorbei mit ihrer Ruhe, sie war aufgeregt und verwirrt, sie raffte die Segel und ein guter Wind trieb ihr Boot schnell voran. Als sie näher kam, sah sie ihn. Ein riesiger Felsen ragte aus dem Meer empor – weiß leuchtete er in der aufgehenden Sonne – so hell wie ein Leuchtturm in der Nacht. Und als sie ganz nah an die weißen Wände herankam da wusste sie es: Das war ihre Heimat, hier war sie zu Hause, nur hier wollte sie leben, nur hier wollte sie ihren Anker werfen. Sie spürte ein unglaubliches Glücksgefühl in sich aufsteigen. Wie schön, wie stark, wie erhaben dieser Felsen doch war. Er konnte ihr Schutz und Sicherheit geben wie kein anderer Platz auf der Welt.
Sie segelte um die Felseninsel herum, die See war rau, es gab viele Untiefen und scharfe Klippen ragten aus dem Wasser. Aber sie fand keine stille Bucht, fand keinen Platz zum Ankern. Doch das störte die Frau nicht weiter, sie segelte wieder in tiefere Gewässer, warf ihren Anker und schwamm zur Insel um sie zu erkunden. Auch die schmerzhaften Schrammen die sie sich holte, als sie an den Felsen heraufkletterte störten sie nicht. Sie ließ sich auf den warmen Steinen nieder und räkelte sich in der Sonne – so wohl hatte sie sich noch niemals in ihrem Leben gefühlt wie auf diesem weißen, harten Gestein. Lange Zeit ruhte sie in der Sonne doch dann zogen Wolken am Himmel auf und verdunkelten die Welt. Sie fröstelte und suchte vergeblich Schutz. Sie beschloss, eine Hütte zu bauen. Die Insel war so zerfurcht und spitze Steine ragten überall empor, dass ihre Füße blutig wurden auf ihrer Suche nach dem geeigneten Platz. Lange Zeit kletterte sie über die Felsen, doch nirgendwo fand sie einen Platz zum Wohnen. Als die Sonne wieder durch die Wolken brach, ruhte die Frau wieder eine Weile aus – es war ein wirklich guter Ort. Sie stieg auf den Gipfel der hoch hinauf in den Himmel ragte und von dort hatte sie einen Blick wie nie zuvor im Leben. Von weit oben schaute sie über das unendliche Meer. Doch dann kam ein Sturm auf, Regen peitschte in ihr Gesicht, die Felsen wurden glitschig und der Frau blieb keine andere Wahl als zu ihrem Boot zurück zu schwimmen. Dort wartete sie den Sturm ab und am nächsten Tag machte sie sich erneut auf den Weg die Insel zu erkunden.
So ging es Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr – die Frau hatte ihr Ziel vor Augen, sie hatte ihre Heimat gefunden und so gab sie nicht auf, einen geeigneten Platz auf der schönen Felseninsel zu suchen – doch sie konnte ihn nicht finden, so sehr sie auch suchte. Manchmal wurde sie sehr müde, sie blieb tagelang auf ihrem Boot und schaute voller Sehnsucht auf den einsamen Felsen im Meer. Das Meer war hier lange nicht so ruhig wie auf ihrer alten Insel, eine tosende Brandung schlug gegen die Felsen. Das Wetter war stürmisch und rau – das alles störte die Frau nicht und sie fragte nicht warum, denn sie liebte diesen Ort.
Doch die Sonne kam immer seltener zum Vorschein und manches mal wirkte der sturmumtoste Berg jetzt unheimlich und bedrohlich. Wieder und wieder segelte die Frau um die Felseninsel, wieder und wieder lief sie sich die Füße blutig und sie wollte – nein, sie konnte – es nicht glauben. Es konnte einfach nicht sein, dass es hier keinen Platz für sie gab. Doch immer öfter beschlich sie das Gefühl, dass dieser Felsen niemandem Platz bieten wollte. Fast wurde es zur Gewissheit – er schüttelte sie ab – er verletzte sie mit seinen scharfen Kanten, er schubste sie von seinen rutschigen Felsen. Wut stieg in der Frau auf – das konnte, das durfte er nicht tun. Fragen stiegen auf – wieso machte er das? Sie fand keine Antwort.
Die Frau war verzweifelt. Was konnte Sie tun? Ein paar mal hatte sie versucht, die Felsen mit einer Spitzhacke zu bearbeiten um eine Stelle zu ebnen – doch der Berg hatte ihr die Gesteinssplitter hart ins Gesicht geschleudert – er ließ es nicht zu, dass man ihm so zu Leibe rückte. Die Frau hatte es auch mit einer Feile versucht, doch nach einer Weile musste sie aufgeben, die Felsen waren zu hart und zu zahlreich – sie hätte bis an ihr Lebensende dort gesessen um nur einen kleinen Platz glatt zu schleifen.
Die Frau wurde sehr traurig. Still betrachtete sie den schönen Felsen im Meer. Und je länger sie ihn so betrachtete umso klarer wurde ihr Blick – sie sah plötzlich den undurchdringlichen Nebel der ihn so oft umgab, sie sah seine scharfen Kanten bedrohlich aufragen, sie sah die tosende Brandung, die glatten, gefährlichen Klippen. Sie sah plötzlich, dass es dort keine Bäume gab, keine Buchten, keine ebene Stelle, kein Trinkwasser, keine Tiere und keine Blumen. Sie sah nur einen weißen, kahlen, bedrohlichen Felsen aus dem Ozean aufragen.
Sie wollte es nicht glauben. Konnte sie sich wirklich so getäuscht haben? Konnte sie wirklich die ganze Zeit so blind gewesen sein? Eine grausige Gewissheit schlich sich ganz langsam in ihr Bewusstsein – doch sie wollte es nicht wahr haben. Sie war die ganze Zeit auf einem harten, lebensfeindlichen Felsen herumgelaufen und hatte ihn tatsächlich für das Paradies gehalten.
Was war geschehen? Wie konnte das passieren? Sie schaute auf den Felsen und eine Ahnung stieg in ihr auf – dieser Felsen im Meer war genauso einsam wie sie. Er war das Symbol ihrer eigenen, nie gefühlten Einsamkeit – das Symbol ihrer tiefsten Ängste.
Dieser Felsen hatte sie an ihre Grenzen gebracht, er hatte ihr ihre Stärken und Schwächen aufgezeigt, er hatte ihr gezeigt, was sie vermisste und er hatte ihr gezeigt, was sie brauchte. Doch er konnte ihr nichts davon geben. Er war nur ein starrer, unbeweglicher Felsen. Er war nur ein Symbol – ein Wegweiser – ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Er hatte ihr gezeigt, wohin die Reise gehen sollte.
Dieser Felsen hatte sie gelehrt besser zu segeln. Er hatte sie gelehrt, den schlimmsten Stürmen zu trotzen. Er hatte sie gelehrt Wind und Wetter genauer zu beobachten und zu verstehen. Doch er hatte ihr nie den erhofften Schutz und die ersehnte Heimat bieten können.
Dieser Felsen hatte ihr nichts geben können und doch hatte er ihr so viel gegeben. Er hatte sie verletzt und ihr Schmerzen zugefügt – und sie liebte diesen Felsen, sie liebte diesen unwirklichen Ort, liebte, wie sie noch nie zuvor geliebt hatte. Doch sie spürte, dass es an der Zeit war, diesen Ort zu verlassen und der Gedanke daran erschien ihr unerträglich – heiße Tränen stiegen in ihre Augen. Sie wusste, sie hatte alles gelernt was sie hier lernen konnte und sie hatte schmerzlich begriffen, dass es hier keinen Platz für sie gab – das es nie einen gegeben hatte und nie einen geben würde. Sie wusste jetzt, dass sie nicht ewig auf ihrem kleinen Boot bleiben wollte, dass sie nicht ewig ziellos über das Meer segeln wollte und sie ahnte, wie ihre Heimat aussehen sollte. Zum ersten mal hatte sie eine Ahnung davon, was sie zum Leben brauchte und was sie vom Leben wollte.
Schon ein paar mal hatte sie halbherzig versucht von der Insel wegzusegeln, doch die Strömungen waren stark und immer wieder wurde ihr Boot zurückgetrieben. Doch jetzt war sie bereit aufzubrechen, jetzt konnte sie gut genug segeln um alle Strömungen und Klippen zu umschiffen.
Sie wusste nicht, wohin der Wind sie treiben würde, sie wusste nicht, ob sie diesen Ort jemals finden würde doch sie wusste, dass sie noch viel weiter auf das offene Meer hinaus segeln musste. Die Frau wusste jetzt, dass sie immer eine Heimatlose gewesen war und sie wusste, dass sie es nicht bleiben wollte.
Dicke Tränen rannen über ihre Wangen als sie den Anker einzog und einen letzten Blick auf ihren geliebten Felsen warf. Sie spürte, dass die Götter ihr wohl gesonnen waren. Sie raffte die Segel und nahm Kurs auf das offene Meer – und sie blickte nicht zurück.
Fortsetzung folgt...