Liebe Bijoux!
Bijoux schrieb:
Aber Reinfriede, es sind IMMER Kinder oder Minderjaehrige, schwache, abhaengige Menschen, die sich nicht wehren koennen.
An anderen wird kein Missbrauch ausgeuebt, das ist ja die grenzenlose Feigheit der "Taeter".
Ich wollte bewusst dieses Thema ausgrenzen, weil es sehr an den verständlichen Emotionen rüttelt. Gerade was Kinder anbelangt, sind wir alle sensibel (mich miteingeschlossen, ich habe drei Mädchen).
Und das Kinder sich NICHT wehren können, das hab ich ja geschrieben. Es geht mir darum, wie man mit diesen Erlebnissen als ERWACHSENER, später, damit umgeht.
Bijoux schrieb:
Maud war ein Kind oder eine abhaengige Jugendliche, als ihr Stiefvater sie missbrauchen wollte, sie hat sich gewehrt und ist zu ihren Grosseltern gelaufen - was ist mit denen, die niemanden haben?
Mir ist das, was du sagst, seit langem bekannt, es ist eine Theorie, die mir viel zu einfach ist!
Hier stimme ich Dir vollkommen zu. Es geht auch bei der "Verschuldensfrage" NICHT darum, unser System der "Strafe" im Sinne von Schutz der Gesellschaft in Frage zu stellen, absolut nicht. Ein Mensch, der aufgrund seiner Handlungen eine Gefahr für sein Umfeld darstellt, MUSS durch entsprechende Maßnahmen (sei es nun Gefängnis, Therapie etc.) davon abgehalten werden, Verbrechen zu begehen. Unsere Gesellschaft würde sonst wahrscheinlich nicht lange bestehen.
Ich war als Kind in einer ähnlichen Situation wie Maud, es war wirklich schlimm, zumal mir keiner in der Familie "geglaubt" hätte, nicht mal meine Eltern. Ich denke, ich kann in etwa nachvollziehen, was sie durchgemacht hat und wie sie gelitten hat.
Die Frage ist jedoch für mich, WAS man daraus macht, wie man mit dieser Erfahrung umgeht, und zwar später.
Ich habe mich von der Vorstellung gelöst, dass mein Onkel "schuldig" ist. Er hat nach seinen Erfahrungen gehandelt, die VERANTWORTUNG dafür übernehme ich nicht, die muss er selbst tragen! Was Du sähst, wirst Du ernten! Wenn ein Mensch ununterbrochen (nach unserer Bewertung) Schlechtes tut, wird ihm auch ununterbrochen Schlechtes widerfahren, nach dem Gesetz der Resonanz. Das hat gar nichts mehr mit MIR zu tun. ER lebt sein Leben, ich meines. Die Konsequenzen aus seinem Handeln wird ER durchstehen, früher oder später.
MEINE Konsequenzen aus dieser Zeit sind die, dass ich erstens sensibilisiert für dieses Thema bin, hellhörig bin, meine Kinder sehr ernst nehme mit ihren Gefühlen anderen gegenüber. Ihnen schon als Kleinkinder beigebracht habe, "nein" zu sagen, sich abzugrenzen (das fing damit an, dass sie es sich vorbehaltlos aussuchen konnten, von welchem Verwandten sie sich ein Busserl geben ließen und von wem nicht, ungeachtet dessen Reaktion darauf, ich stehe hinter meinen Mädels!).
Aus meinen Töchtern sind selbstbewusste, fast erwachsene Frauen geworden, die sich sicher NICHT missbrauchen lassen, egal ob sexuell oder psychisch.
Das ist mein, für mich positiver Beitrag aus dieser Erfahrung, wenn auch nur im kleinen Familienbereich (und da fängt es ja meistens an....).
Was hätte es mir genützt, wenn ich meinen Onkel die "Schuld" zugeschoben hätte? Ich hätte NICHT erkannt, dass ich MEINEN Kindern Abgrenzung beibringen muss. Ich hätte mich eingeigelt in meinem Schmerz und wäre nicht frei genug gewesen, auf die Signale meiner Kinder zu achten. Wie oft kommt es vor, dass gerade Mütter, die als Kind mißbraucht wurden, es NICHT sehen, wenn es ihren Kindern passiert? Sie kämpfen noch immer mir ihren eigenen Erinnerungen und sind dadurch sehr auf sich selbst fixiert.
Es tut wirklich gut, sich von den schlimmen Erinnerungen zu lösen, man er-löst mit dem Täter auch das Opfer. Durch die Frage der Schuld verharrt man in dieser Erinnerung und wird unfähig, sie zu bearbeiten.
Ich hab vor einigen Jahren ein Interview mit einem Häftlich im Radio gehört. Er war über 40 und machte seine Mutter dafür verantwortlich, dass er immer wieder im Gefängnis landete. Die Begründung war: Sie hat mir als Kind zuwenig Liebe gegeben..... Verstehst Du, worauf ich hinaus will?
Durch diese Schuldzuweisung an seine Mutter verharrt er in einem Muster und kann sich nicht weiterentwickeln.
Bijoux schrieb:
Und natuerlich kann man alles verstehen - der Taeter wurde mit Sicherheit auch gequaelt oder missbraucht, als er sich nicht wehren konnte, aber es ist nur eine ERKLAERUNG, keine Entschuldigung.
Denn warum hat er nichts reflektiert, nichts gelernt, warum hat er alles weitergegeben? ER ist doch erwachsen, warum fuehlt er sich im "Recht"?
Das ist genau der Punkt, den ich in meinem Posting angesprochen habe. Wenn man versucht, sich in "seine" Rolle hineinzuversetzen, darf man nicht vom eigenen Erfahrungsschatz ausgehen. ICH hätte das anders gemacht, ja...
Aber ER kann wiederum nur aus seinen Erfahrungen heraus handeln. Er IST nicht ich, mit seinem Denken nicht, mit seinen Erfahrungen nicht. Und DARUM fühlt er sich NICHT schuldig.
Bei Verhaftungen hört man immer wieder, wie der Täter sich als Opfer darstellt, in Selbstmitleid zerfließt. Er fühlt sich NICHT schuldig, weil er nichts anderes getan hat, als WIR ständig tun: Er handelt nach SEINEN Erfahrungen. Jeder Mensch ist verschieden, jeder Mensch lebt ein anderes Leben, macht andere Erfahrungen und zieht andere Konsequenzen daraus. (D.h. wie gesagt NICHT, dass die Gesellschaft nichts unternehmen soll, wenn sich jemand zum Schaden der Allgemeinheit verhält).
Bijoux schrieb:
Ich habe die Lieblosigkeit und Gleichgueltigkeit meiner Eltern mir gegenueber NICHT an meinen Kindern wiederholt, ganz bewusst!
Meine Mutter wurde von ihrer eigenen Mutter massiv abgelehnt, warum war sie so dumm und hat nicht gesehen, dass sie dasselbe mit mir machte?
Du hast die Konsequenzen aus Deiner Kindheit gezogen, im positiven Sinne. Warum Deine Mutter das nicht konnte, dafür wird es wahrscheinlich viele Gründe geben, aber eines ist sicher: Sie KONNTE nicht anders. Weil sie eben NICHT Du ist!
Bijoux schrieb:
Nein, Reinfriede, es ist, wie ich schon sagte, nur eine Erklaerung, niemals eine Entschuldigung.
Und warum soll ausgerechnet das Opfer die Verantwortung uebernehmen, deren totalen Mangel beim "Taeter" man beschoenigt und entschuldigt?
Das stimmt was nicht!
Ich denke, hier werden zwei Dinge miteinander vermengt. Dem Täter den Begriff "Schuldiger" zu nehmen, heißt nicht, seine Handlungen gutzuheißen und zu beschönigen. Es heißt für mich, mir vorzustellen, wie ich gehandelt hätte, wenn ich GENAU seinen Weg gegangen wäre, seine Verletzungen erfahren hätte, seine Gedanken gehabt hätte etc.. Und wenn ich absolut ehrlich bin, dann komme ich drauf, dass auch ich genauso gehandelt hätte.
Denn meine heutige Lebenseinstellung, dass ich dies oder das NICHT machen würde, resultuiert letztendlich aus MEINEM Lebensweg, und DER war ein anderer.
Dem Täter "die Schuld" zu geben, heißt letztendlich, in dieser Situation verhangen zu sein (siehe Beispiel Gefängnisinsasse), dem Täter zu ent-schuldigen macht eine Aufarbeitung erst möglich und damit befreit es letztendlich auch das "Opfer". Durch das Erkennen, dass es keine Schuld gibt, wird in erster Linie dem Opfer geholfen!
So, ist lang geworden, mein Posting. Ich hoffe, es kommt richtig rüber, was ich meine, nämlich, dass ich nicht vorhatte, dem "Opfer" die Schuld zuzuweisen, sondern rüberzubringen, dass es "Schuld" an sich nur viel schwerer macht, sich aus einer Erinnerung zu lösen, sich mit dieser auszusöhnen und dadurch einen gewaltigen Schritt weiterzukommen.
Ich schick Dir viele liebe Grüße,
Reinfriede