Diagnose : Lehrer !
hat Friedrich Mahlmann, Schulleiter in Nordrhein-Westfalen, die chronische Krise seines Berufsstandes einmal beschrieben. Aber was ist nun wirklich dran am diffusen öffentlichen Missbehagen, an dem latenten Verdacht, die Lehrer seien im Grunde unfähig, ihre Arbeit ordentlich zu tun? Längst hat sich auch die Wissenschaft des Themas bemächtigt. Die einschlägige Literatur füllt inzwischen ganze Bibliotheken. In jüngster Zeit sind nun einige Studien veröffentlicht worden, deren Ergebnisse doch ein etwas anderes Licht auf die Sache werfen. Wenn wirklich etwas nicht stimmt in dem Beruf, kann man es nicht allein den Lehrern anlasten. Wir hängen alle mit drin. Mit anderen Worten: Eine Gesellschaft hat vermutlich immer die Lehrer, die sie verdient.
Doch zunächst die gute Nachricht: Lehrer sind besser als ihr Ruf, weil sie schlechter kaum noch sein könnten. Dies belegt eine Untersuchung über das Berufsprestige von Lehrern in Bayern, die am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität München gemacht wurde. Lehrer sind die Prestigeverlierer der Gesellschaft. Hatten 1966 noch 37 Prozent der Westdeutschen besondere Hochachtung vor den Grundschullehrern, so sind es 1999 nur noch 20 Prozent.
Besonders schlecht kommen Lehrer in der Presse weg. Hier sind die Urteile und Zuschreibungen zu 75 Prozent negativ. Das am häufigsten verwendete Adjektiv heißt "überfordert", dicht gefolgt von "faul". Die 25 Prozent positiver Beurteilungen fallen dagegen kaum ins Gewicht, schon deshalb, weil sie meist im Konditional verpackt sind: Der Lehrer müsste (sollte, könnte) engagiert (kompetent, selbstsicher, motiviert) auftreten.
In der Bevölkerung ist das Lehrerbild diffus, zum Teil gar widersprüchlich. Einerseits neidet man den Pädagogen ihre vermeintlichen Privilegien wie Freizeit, Ferien, den sicheren Job bei guter Bezahlung. Andererseits möchten drei von vier Befragten auf gar keinen Fall selbst Lehrer sein. Dabei sind die meisten überzeugt, dass die Fähigkeit zum Lehrer eine angeborene Begabung sei. Die öffentliche Erwartung an die Pädagogen richtet sich nur zum geringen Teil auf deren Aufgabe als reine Wissensvermittler; 85 Prozent erwarten vor allem sozialpädagogische und therapeutische Kompetenz.
Besonders konfliktbeladen ist deshalb das Verhältnis von Eltern und Lehrern. Eltern nämlich verlangen nicht nur Wissensvermittlung für ihre Kinder (vor allem Deutsch und Fremdsprachen), sie fordern immer mehr auch Erziehungsaufgaben ein. Gute Umgangsformen, Toleranz, Höflichkeit, also Qualitäten, die klassisch zur Elternerziehung gehören, sollen nun auch in der Schule vermittelt werden. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Eltern von der allgemeinen Panikmache besonders verunsichert werden. Sie machen die Schule allein verantwortlich für die Zukunftschancen ihrer Kinder, und jede Irritation in deren Schulkarriere wird den Lehrern angekreidet.
Der enorme Druck von außen verstärkt sich in fataler Weise in dem Maß, wie er einem ebenso großen Binnendruck korrespondiert. Die Überforderung durch öffentliche Ansprüche geht häufig einher mit dem Gefühl, im Schulbetrieb selbst zu versagen. Warum gerade Lehrer für derart selbstzerstörerisches Denken so anfällig sind, ist schwer zu erklären. Immerhin kann hier eine kleine, aber höchst aufschlussreiche empirische Studie über die soziale Herkunft von Grundschullehrern Hinweise liefern. Sie wurde unter Leitung von Eva Schumacher am Institut für Allgemeine Pädagogik an der Universität Karlsruhe gemacht.
Bei einer Gliederung der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung in zehn Sozialmilieus zeigte es sich, dass Lehrer zum überwiegenden Teil aus einem einzigen Milieu stammen. Sie gehören zu 64 Prozent dem so genannten liberal-intellektuellen Milieu an, in dem die Gesamtbevölkerung insgesamt mit nur 10 Prozent vertreten ist. Gekennzeichnet ist dieses Milieu zum Beispiel durch ausgeprägtes Streben nach ökologischer und politischer Correctness, nach sozialer Gerechtigkeit, Versöhnung von Menschen und Natur, gesundheitsbewusster Lebensführung und einer tiefen Abneigung gegenüber "sinnentleertem" Konsum. Die Mehrheit der Schulkinder aber entstammt gänzlich anderen Milieus, von deren Zuschnitt Lehrer wenig Ahnung haben oder deren Prägungen sie gar ablehnen. Im Zusammenprall der Milieus mag eine Ursache dafür liegen, dass Lehrer ihre Schüler nicht mehr verstehen und schon gar nicht "lieben" können, wie beseelte Pädagogen das von ihnen verlangen. Stattdessen häufen sich die Klagen über die "neuen Kinder".
Am schlimmsten sind schwierige Kinder und große Klassen
Der Zwischenbericht einer Untersuchung zur Belastung im Lehrerberuf, die unter der Leitung von Uwe Schaarschmidt an der Universität Potsdam durchgeführt wird, bestätigt diesen Verdacht. Das Verhalten der als schwierig empfundenen Schüler wird vor allem anderen von den Pädagogen als Belastung beurteilt. Auf Platz zwei und drei rangieren dann die Klassenstärke und Stundenzahl. Die Potsdamer Studie weist auch nach, dass solche Belastungen Lehrer Krankheiten gegenüber tatsächlich anfälliger machen als Angehörige anderer Berufe mit psychosozialer Beanspruchung wie etwa Pflegeberufe. Unter emotionalem Druck ziehen sich Lehrer - grob gesagt - auf zwei Verhaltensmuster zurück, die beide mit einem hohen Krankheitsrisiko behaftet sind. Typ A reagiert mit überhöhtem Ehrgeiz und gerät in eine unselige Schleife aus kräftezehrendem Einsatz bei ausbleibendem Erfolgserlebnis. Herz- und Kreislauferkrankungen sind oft die Folge. Besonders Frauen neigen zu diesem Verhalten. Typ B dagegen resigniert, reagiert mit "Null Bock"-Verhalten und verfällt, da er auch nicht in der Lage ist, negative Erlebnisse zu kompensieren, in eine depressive Grundstimmung. Diese Tendenz, sich in einem Risikomuster einzunisten, legen sich Lehrer übrigens nicht erst im Laufe eines langen Pädagogendaseins zu, sondern fast sofort, wenn sie die Ausbildung hinter sich haben und ihren Job antreten. Das so genannte Burn-out-Syndrom lässt sich also keineswegs nur bei den Älteren feststellen.
Die Folge ist, wie eine Studie der Hamburger Universität und des Zentralinstituts für Arbeitsmedizin in Hamburg zeigt: Lehrer werden zwar älter, sind aber häufiger krank und öfter frühpensioniert als Angehörige vergleichbarer Berufe wie Richter, Ärzte oder Architekten. Jede zweite Lehrkraft scheidet vorzeitig aus dem Schuldienst aus. 84 Prozent der Befragten waren im vergangenen Jahr in ärztlicher Behandlung, von den Frauen gar 90 Prozent. Auch die Hamburger Untersuchung ergab, dass das Lebensalter keinerlei Einfluss auf die Erschöpfung hat. Ein wesentliches Ergebnis war - und das überraschte auch die Wissenschaftler selbst: Nicht etwa die in der Schule verbrachte Arbeitszeit führt zu den Erschöpfungszuständen, sondern die berufliche häusliche Arbeitszeit, also die Vorbereitung auf den Unterricht, das Korrigieren von Klassenarbeiten und dergleichen. Wenn die Freizeit nicht mehr als Freizeit erlebt wird, so deuten die Wissenschaftler diesen Befund, mindere sich ihr notwendiger Erholungswert.
So weit also die Diagnose. Wie aber könnte die Therapie aussehen? Die Verlegung von mehr beruflicher Arbeitszeit in die Schule, wie die Hamburger Forscher vorschlagen? Vielleicht. Bessere Lehreraus- und -fortbildung, die unter anderem auch soziologische Grundkenntnisse für angemessene Umgangsmuster mit den Sprösslingen verschiedener Herkunft vermittelt? Mit Sicherheit. Ganz bestimmt aber müsste der Rest der Gesellschaft weg von der völlig überzogenen Erwartung, dass man Kinder mit fünf oder sechs am Schultor abliefert, um sie nach mitunter dreizehn Jahren (oder mehr) fertig ausgebildet, perfekt erzogen und absolut zukunftsfähig wieder in Empfang zu nehmen.