Liebe Lucille!
Klar hast Du recht mit der Implikation, dass ich eine Sonderstellung hatte. Und damit Macht.
So war es ja auch. Die "Macht" ergab sich aus dem Näheverhältnis.
Ich habe meinen Ex mit Sicherheit oft gereizt bis auf's Blut. Und verstehe somit
auch seine Reaktionen. Er hat re-agiert.
Also ganz "schuld-los" komme ich aus der Sache nicht heraus.
Klar, den Eigenanteil hat man immer in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieses Wort Eigenanteil finde ich übrigens hilfreicher als das Wort Schuld.
Die Frage ist, wie weit der Eigenanteil reichen kann.
Eine Verwandte von mir nannte ihren Eigenanteil z.B. "Sticheln". Sein Eigenanteil war: Prügel.
Nun stellt sich die Frage, wieweit man da noch von "Macht" sprechen kann. Denn er meinte auch, nur sie wäre fähig, seine dunkelsten Seiten aus ihm herauszubringen.
Das sehe ich nicht so. Denn ein gewalttätiger Mensch ist es von sich aus. Genauso wie Dein Exmann - entschuldige, wenn ich da jetzt, ohne ihn zu kennen, einfach vor mich hinskizziere - von sich aus so ist und war. Du warst im besten Fall der Auslöser, aber hätte er diese Anteile nicht gehabt, so wären sie nie zum Vorschein gekommen.
Wenn diese Anteile bei seiner jetzigen Partnerin nicht sichtbar sind, heisst das noch lange nicht, dass er sie nicht hätte ohne Dich.
Ein Beispiel von mir: Mein Exmann hatte ununterbrochen geredet, so viel, dass die Menschen in seinem Umfeld geflüchtet sind, mich miteingeschlossen. Seine jetzige Partnerin hat das, uncharmant ausgedrückt, voll im Griff. Ein Wort von ihr und er ist ruhig. Ich schau da nur immer so.
Das macht aus ihm aber keinen schweigsamen Menschen. Denn wenn jemand so ist, dann ist er eben so - es wird Menschen geben, bei denen diese Eigenarten nicht zum Tragen kommen, das mag sein - aber er ist wie er ist.
Genauso wie der Exmann meiner Verwandten bei einer Partnerin, die sich das gefallen lässt (oder sich womöglich auch noch mitschuldig fühlt für seine Aggressionen) wieder hinhauen wird.
Die "dunklen Seiten" in einem Menschen hat er oder hat er nicht. Jeder Mensch hat dunkle Seiten, aber jeder SEINE.
Umgekehrt hat es genauso stattgefunden.
Seine (sicher nicht mal absichtliche) spezielle Art, nicht genau zuzuhören, Uhrzeiten zu verdrehen, unpünktlich
zu sein oder Treffpunkte zu verwechseln hat mich unglaublich wütend gemacht.
Weil ich selbst ganz anders gepolt bin, da fehlte mir gänzlich das Verständnis.
Und wenn ich wütend war, dann habe ich mich auch entsprechend verhalten, habe also auch "nur" re-agiert.
Die tatsächlichen Reaktionen sind dann eben abhängig von der eigenen Persönlichkeit.
Ex hat gebrüllt .... Lucille war strafend beleidigt oder wurde zynisch.
Alles falsch, ganz und gar falsch.
Schattenseiten halt.
Das verstehe ich gut - es ist ja immer eine Interaktion, manchmal auch ein Karussel. Das heisst aber nicht, dass es nicht noch viele andere Menschen geben muss, bei denen er genauso reagieren würde. Dieses "nur Du bringst meine dunkelsten Seiten zum Vorschein" - DAS ist das, woran ich nicht glaube. Denn wenn ein Mensch diese Reaktionen zeigen KANN, dann ist es nicht Deine Verantwortung.
Aber ich teile die These überhaupt nicht, dass ich das vermeintliche Mangelverhalten mir
unbewusst auch gerne erlauben würde. Um beim Beispiel "zu spät kommen" zu bleiben:
es ist mir schlichtweg kein (unausgelebtes?!) Bedürfnis, jemanden (ohne triftigen Grund)
warten zu lassen.
Oder jemand ist unzuverlässig betreffend eine Rückmeldung (Mail, Telefon, whatever ...).
Auch hier habe ich keinen verborgenen Wunsch, es gleichzutun. Ich beneide denjenigen
definitiv nicht ob seinem Umgang mit Zuverlässigkeit.
Es hat nur insofern mit mir zu tun, dass ich mich persönlich betroffen fühle - weil ich es
ja auch bin.
Das Beispiel, das ich gebracht hatte mit dem Angeben - glaub mir, es war mir absolut kein Bedürfnis, das zu tun. Ich fand es peinlich und lächerlich. Jedoch hatte es, rückblickend gesehen, wirklich etwas verändert, als ich es dann doch getan habe.
Nicht nur in der Beziehung, sondern auch in mir. Das war ein wirklich komisches Gefühl, etwas selbst zu tun, das man bei anderen ablehnt, es war ein Experiment. Interessant war mein Fühlen danach, es hatte sich - in Bezug auf das Angeben - verändert.
Ich weiss, in der Theorie wirkt das anders als im Fühlen. Vielleicht probierst Du es einmal - auch als Experiment - bei etwas aus, das Dir nicht so wichtig erscheint. Es FÜHLT sich nacher ausgeglichen an. Wie wenn man einen Stolperstein entfernt hat, der einen schon lange im Weg gelegen ist.
Ich glaube das ist vergleichbar mit dem Satz: Dort, wo die Angst ist, dort gehts lang. Direkt drauf zu und das tun, wovor man sich fürchtet, befreit ungemein.
Uijeh, ich glaub, ich bin heute nicht gut im Erklären. Wenn ich mir das nochmal durchlese - versteht mich irgendwer?
Liebe Grüße
Reinfriede, heute wahrscheinlich leicht esoterisch angehaucht...