Tantra, wie es wirklich ist
Nur um einmal einen kleinen Einblick zu geben, was Tantra wirklich bedeutet, hier ein Textausschnitt aus der
Einführung in die Lehren der Nyingma-Schule. Also, wenn ihr nächstes Mal wieder über Tantra redet, dann denkt mal an diesen Text.
Padmasambhava hatte selbst acht Hauptlehrer für die inneren Tantras, die sogenannten acht indischen Wissenshalter (Vidyadhara, tib. Rigzin), einige Lehrer für die höchsten verborgenen Lehren der "Großen Vollkommenheit" (tib. Dzog Chen) und etliche Lehrer, darunter auch einige Frauen, für verschiedene andere buddhistische Lehren der Sutra- und Tantra-Wege sowie Lehrer für Medizin, Sprachen und Schriften, Astrologie, Divination und vieles mehr. All diese Lehren wurden in einem mehrere Jahrhunderte dauernden Prozeß kodifiziert und zu den sogenannten Neun Fahrzeugen der Nyingmapas zusammengefaßt. Diese umfassen vom ersten bis zum neunten aufsteigend sämtliche damals im indo-tibetischen Raum bekannten Formen buddhistischer Praxis.
Die ersten drei Fahrzeuge befassen sich mit der Sutra-Stufe, die ersten beiden enthalten die Lehrunterweisungen des historischen Buddha Shakyamuni, das dritte ist das Bodhisattva-Fahrzeug und enthält die Lehren der transzendenten Weisheit (Prajnaparamita) der Erkenntnis der völligen Identität von Leerheit und allumfassendem Mitgefühl, sowie die noch späteren Sutras wie zum Beispiel das Lotus- und das Avatamsaka-Sutra.
Die mittleren drei Fahrzeuge enthalten die sogenannten äußeren Tantras. Einen zentralen Platz in der tantrischen Meditation nimmt das sogenannte "Gottheitenyoga" ein. Die "Drei-Körper-Lehre" spricht von drei Erscheinungsarten eines Buddhas: Dem formlosen Aspekt, dem verkörperten Aspekt und einem „"Körper der Verzückung" genannten Aspekt, dieser tritt in Form der komplexen männlichen und weiblichen Buddhas, die oft auch vielarmig und vielgesichtig sind, dem Übenden entgegen. Durch Visualisation solcher Formen und Rezitation der zugehörigen Mantras werden die Eigenschaften und Fähigkeiten dieser Buddhas aus den tiefer liegenden Schichten des Bewußtseins des Übenden heraufgerufen und erlebbar gemacht. Die korrekte Durchführung dieses Vorgangs erfordert ein fundiertes Verständnis der Grundlehren der ersten drei Fahrzeuge sowie die Einweihung und nachfolgende Betreuung durch einen kompetenten Meister.
Die drei letzten und höchsten Fahrzeuge werden innere Tantras genannt (diese entsprechen ungefähr der Anuttara-Tantra Stufe der anderen drei tibetischen Hauptschulen). Wesentlich bei den Inneren Tantras ist eine Sichtweise, welche sich über die Unterscheidung zwischen rein und unrein erhebt, d.h. alle inneren und äußeren Phänomene werden als rein von Anbeginn erlebt. Daraus folgt, dass die Emotionen von Ich-Anhaftung, Haß, Sinnengier, Stolz und Eifersucht nicht unterdrückt werden dürfen, da sie den eigentlichen Treibstoff darstellen, welcher das Erleuchtungsfahrzeug eines Adepten dieser Stufe antreibt.
In den ersten beiden Abteilungen der inneren Tantras ist die Hauptmethode die Yidam-Praxis, eine Form von Gottheitenyoga, welche bis zur Erlangung der höheren Bewußtseinskräfte beibehalten wird, die Schüler lernen unterdessen, ihre emotionelle Struktur so wie sie ist, als Mittel für den Pfad zu benutzen, ohne irgendwelche Neigungen welcher Art auch immer, zu unterdrücken.
Im Maha-Yoga liegt dabei der Schwerpunkt auf der Erzeugungsphase (tib. kyerim) des Gottheitenyoga, d.h. durch ausgedehnte intensive Praxis, die teilweise in Retreats in der Dauer von zwei Wochen bis drei Monaten und mehr durchzuführen ist, wird die Erscheinung des Yidam solange internalisiert, bis er sich in einem Vorgang der „"instruktiven Vision" selbst offenbart und dem Meditierenden die entsprechenden Kräfte verleiht. Die wichtigsten Yidams dieser Klasse sind die „"Acht Herukas", von denen der prominenteste, auch in anderen Linien geübte, der Yidam des Kontrollierens und Zerstörens von Hindernissen ist, Vajrakila, die Gottheit des magischen Dolchs. Eigentlich sind es neun solcher Yidams, da im Mittelpunkt des Systems eine meist zornvolle Erscheinungsform von Padmasambhava steht.
Im Anu-Yoga steht im Zentrum die Vollendungsphase (tib. dsogrim). Die Übungen dabei zielen auf die Beherrschung des feinstofflichen Energiesystems, bestehend aus dem Zentralkanal, den Seiten- und Nebenkanälen und den Energiezentren (Chakras), den sogenannten „Energiewinden (Sanskr. prana, tib. lung) und den (Bewußtseins-)Essenzen, (Sanskr. bindu, tib. thigle). Ähnlich den in den „"neuen" Schulen gebrauchten „"Sechs Yogas von Naropa" gibt es hier Übungen zur Erweckung des inneren Feuers (tib. tumo), Traumkontrolle, Bewußtseinsübertragung, Lebensverlängerung und vieles mehr. Zu dieser Übungsphase gehört auch die Karmamudra genannte Praxis der sexuellen Vereinigung, bei welcher zwei entsprechend geschulte Übende die äußere Form und das energetische Innenleben eines Yidam aktivieren, der seinerseits aus einer männlichen mit einem weiblichen Buddha vereinigten Form besteht. Dieses soll ohne gegenseitige Anhaftung erfolgen und führt durch Aufhebung der Grenzen zwischen den Beteiligten zur ekstatischen Erfahrung der Ichlosigkeit, genannt "Wonne und Leerheit vereinigt".
Das letzte und höchste der neun Fahrzeuge wird Ati-Yoga genannt, und enthält die Lehren der "Großen Vollkommenheit", Dzog Chen. Die Hauptmethode ist hier nicht Gottheitenyoga, vielmehr gibt es eine Vielzahl von Methoden, die auf der „Einführung in die "Natur des Geistes" basieren, welche den Geist als völlig ident mit dem ursprünglichen Buddha zeigt. Dies kann nicht intellektuell verstanden werden, sondern der Meister führt den Schüler direkt zu der Erfahrung. Dzog-Chen-Lehren sind völlig unabhängig von den anderen Methoden und können an geeignete Personen sofort gelehrt werden.
Alles Liebe. Gerrit