Liebe Lucille!
Ich hoffe, mein Beitrag wird nicht zu unstrukturiert, denn mir gehen viele Gedanken zu dem Thema durch den Kopf, ist ja auch ein großes Thema, finde ich.
Wenn die Eltern alt werden, dann kommt in einem - vielleicht unbewusst - der Gedanke auf, dass man selbst "der Nächste" ist, so denn die von der Natur vorgesehene "Reihenfolge" eingehalten wird.
Und ich gestehe, es macht mir Angst.
Der Verstand gibt ganz klar vor, dass ich besser daran täte, mich mit meiner Endlichkeit tatsächlich auseinander zu setzen - aber mein Verdrängungsmechanismus ist da stärker. Letztens (und in einem ganz anderen Zusammenhang) fragte mich meine Jüngste, ob ich denn auch schon mein Testament gemacht hätte. Ich gebe zu, diese einfache Frage hat mir einen massiven Stich versetzt. Blöd, ich weiß.
Weisst Du, dass ich (ich bin jetzt 50) schon vor 10 Jahren meinen letzten Willen verfasst habe? Mir ging es damals vor allem um die Sicherstellung der Versorgung der Kinder. Weil wir ja geschieden sind und ich das alleinige Sorgerecht habe, wären meine Kinder rechtlich ohne Erziehungsberechtigten dagestanden und womöglich in ein Heim gekommen, wenn mir etwas passiert wäre.
Deswegen verfasste ich einen letzten Willen und die darin vorkommenden Personen bekamen einen Abzug davon. Er regelte das Sorgerecht, die Wohnsituation und das Finanzielle.
Mich erschreckt die Frage nach einem Testament nicht. Für mich heisst das einfach Schutz für die Kinder - auch für den Fall, dass es mich mal nicht mehr hier geben sollte. Denn passieren kann auch etwas in jungen Jahren. Meine Großmutter starb mit 48, ihr Mann mit 49.
Mein damals kleiner Neffe fragte seinen Vater (also meinen Bruder), ob er, wenn er sterben würde, seinen Führerschein erben würde.
Die Frage nach dem Testament sehe ich selbst nicht als ein "Mama, Du bist alt", sondern als ein "Mama, denkst Du in jeder Situation an mich?"
Ich telefoniere in letzter Zeit wieder oft und lange mit meiner Mutter, und dabei laufen bei mir schon
mal die Tränen.
Sie ist über 80, sie lebt alleine, seit mein Vater gestorben ist, ist aber dennoch nicht einsam.
Trotzdem, der Widerspruch zu ihrer geistigen Regheit, ihrer jungen Stimme - und andererseits ihrem körperlichen Abbau geht mir sehr sehr nahe. Sie war immer ein sehr "schneller", wendiger und zupackender Mensch, und ihre eigene Fassungslosigkeit über den irreversiblen Ent-schleunigungsprozess sieht sie ungeschönt.
Ich könnte das auch nicht abfedern, dazu ist sie zu realistisch und nüchtern-denkend.
Mich macht das hilflos, und schliesslich bin ich es auch. Deshalb die Tränen, denke ich.
Ich verstehe Dich da gut, Lucille. Ich sehe bei meinen Eltern auch, wie sie schwächer werden. Meine Mutter war früher eine Powerfrau, ein Heimwerker, ein Energiebündel, das scheinbar aus einer unversiegbaren Quelle schöpfte. Sie bemerkt selbst, dass sie nicht mehr soviel Kraft hat. Sie hat den "Vorteil", dass sie an meinem Vater sieht, dass es ihm auch so geht, sie gehen diesen Weg gemeinsam.
Mir hat jemand mal etwas gesagt, das ich Dir hier sinngemäß an dieser Stelle erzählen möchte, für mich war diese Metapher sehr hilfreich:
Das Leben ist eine Urlaubsreise. Wir kommen auf diese Welt und bewegen uns mithilfe eines Körpers hier, mit dem wir diesen Urlaub erleben können, mit allen Sinnen. Es liegt an uns, ob wir diesen Urlaub genießen oder ihn einfach vorübergehen lassen. Wir können diesen Urlaub im Hotelzimmer verbringen, wir können aber auch die Schönheiten der Landschaften und die Gespräche mit den Menschen genießen.
Die Fahrkarte retour haben wir im Gepäck und wohin dann der nächste Urlaub gehen wird, wissen wir noch nicht - das Jetzt ist wichtig.
Wenn es Zeit wird für die Heimreise, weil wir genug erlebt haben, beginnt der Körper, Dich weniger festzuhalten. Er hat nicht mehr die Kraft und Energie, die er früher hatte, das ermöglicht Dir den bequemen Ausstieg. Es ist wie ein Zug, der immer langsamer wird, damit Du am Umsteigbahnhof aussteigen kannst.
Mir ist das besonders aufgefallen bei einem Onkel von mir, der die letzten Wochen vor seinem Tod zwar optisch und auf den ersten Eindruck voll da war, aber im Gespräch immer wieder zeitweise "ausgestiegen" ist. Er war mit einem Bein schon draussen aus dem Körper.
Ich weiß, was Du damit sagen willst, liebe Reinfriede.
Auch hier kann meine Ratio Deinem Gedankengang folgen und ihm auch zustimmen.
Aber meine Gefühle dazu, wenn es um mich selbst geht, könnten unterschiedlicher nicht sein.
Ich fürchte mich vor diesem Tag der inneren Resignation. Vor diesem "in Würde alt werden" (müssen), um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben..
Sich arrangieren, sich dem Unabänderlichen fügen.
Ich weiß auch nicht, mir geht's damit nicht sonderlich gut, weil mein Einfluss schwinden wird (das tut er ja bereits), ich es nicht mehr in der Hand haben werde. Meine Mutter ist hier ein Spiegel meiner eigenen Ängste, wie ich mir jetzt erst eingestehe.
Ich habe in den letzten Monaten sehr oft Diskussionen mit einer Freundin von mir, wir haben schon zusammen in der Sandkiste gespielt, so lange kennen wir uns schon. Ihr Leben verlief komplett anders als meines, sie kam aus reichem Haus, machte Karriere, blieb kinderlos und lernte die Welt kennen. Ich kam aus armen Verhältnissen, bekam drei Kinder und lernte meinen Garten kennen.
Wir haben also zwei völlig unterschiedliche Ausganspositionen, was den "Sinn des Lebens" angeht. Meine Aufgaben sah ich in erster Linie in meinen Kindern, sie ihre im Kennenlernen der Welt.
Jetzt, da meine Kinder ausziehen werden und ich bald "alleine" dastehen werde, haben wir beide wieder eine ähnliche Situation - ich muss mich neu orientieren und meinen "Sinn" der neuen Situation anpassen.
Da wir gleich alt sind, haben wir - sinnbildlich gesprochen - beide unsere Hängebäckchen. Und es ist interessant, wie verschieden unsere Herangehensweisen an diese Thematik "Altern mit Würde" sind.
Für mich bedeutet Altern Freiheit in einem gewissen Sinne - eine Freiheit, die sie nicht so empfindet, weil sie ja immer "frei" war. Ich freue mich (mit einem lachenden und einem weinenden Auge) auf die Freiheit, für sie ist es die Norm.
Somit fällt für sie dieser Vorteil weg, der Nachteil (der in meiner Situation als Ausgleich wahrgenommen wird) ist demnach vorherrschendes Thema.
Sie hat sich inzwischen für ein Facelifting angemeldet, überlegt, Hormone zu nehmen, weil die ersten Wechselsymptome da sind - die sie nicht so extrem stören würden, wäre es nicht auch mit einem Elastizitätsverlust der Haut verbunden. Dazu kommen Depressionen, weil das optische Altern leider nicht kontinuierlich, sondern wie ein plötzlicher Abgrund stattgefunden hat.
Ich nehme diese Veränderungen an mir auch wahr. Doch ich hab als "Gegenleistung" die Aussicht auf etwas, das ich als schön empfinde, das macht es für mich nicht so schlimm. Oder sagen wir so: Der Preis, den ich für meine erweiterte Freiheit zahle, ist angemessen.
Ich glaube, es ist IN SUMME von Vorteil, wenn man sich dem Alterungsprozess stellt. Man kann ihn sicher hinausschieben, durch Hormone, durch OPs - aber es ist nur ein Verschieben, kein Durchgehen, kein Bewältigen.
Ich möchte gerne soweit kommen, dass ich sagen kann: Ich bin alt und ich sehe mehr Vorteile als Nachteile darin. Oder zumindest eine Ausgewogenheit.
Und das ist aber eine Sache, die im Denken passiert. Ich glaube, dass es eine Entscheidung ist, die man selbst trifft: Wohin lenke ich meinen Focus? Auf die Vorteile oder auf die Nachteile einer Situation?
Wenn ich meine Eltern ansehe, so sind sie heute in vielen Situationen völlig gelassen, wo sie früher Probleme hatten. Sie sind "weise". Sie verschleudern ihre Energie nicht mehr in Dinge, die eigentlich völlig unwichtig sind. Sie genießen das Leben in seiner Essenz, sie genießen jeden Tag.
Wenn ich ich mit ihnen telefoniere, so höre ich meistens nur schöne Dinge: Sie sitzen gerade im Schwimmbecken oder auf der Terrasse beim Kaffee, sie kommen gerade von einem Verwandtenbesuch, meine Mutter sagt sogar so Dinge wie: Fein, heute habe die Bettwäsche gebügelt und mir gehts gut, weil das erledigt ist, nun kann ich in Ruhe lesen. Sogar die Tatsache, dass das Bügeln mühsam geworden ist, bringt ihr ein Erfolgserlebnis, an dem sie sich freuen kann.
Ich glaub, es geht wirklich über den Kopf, es geht darum, WIE man die Dinge sieht.
Nachdenkliche Grüße
Reinfriede