Hi Andrea,
meine Freundin hat festgestellt, dass Charaktereigenschaften sich mit dem Alter immer mehr ausprägen - die guten, wie die schlechten. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, ihrer über 60 jährigen Tante und ihrer Großmutter und ich muss sagen, dass ich glaube, dass sie Recht hat. Mit der Zeit hat man sich viel zu sehr an "seine" Rolle gewöhnt und davon kommt man nicht so leicht weg.
Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass man Dinge, die man an anderen hasst, oft selber macht. Und gerade Verhaltensweisen, die man nieee von seinen Eltern übernehmen wollte, plötzlich bei einem selber auftauchen. Je mehr man sich anstrengt, etwas nicht zu tun, desto mehr übernimmt man von ihnen. Deswegen bin ich vorsichtiger geworden, von anderen zu erwarten, dass sie sich doch "einfach" ändern können. Ich erwarte es gar nicht mehr.
Nein, ich hab das alles nicht alleine geschafft. Ich hatte Hilfe von "oben". Ich habe lange versucht, es alleine zu schaffen. Ein Buch von Bert Hellinger hat mir scheinbar geholfen. Nach ihm soll man den "Schuldigen" die Verantwortung für alles übergeben, man selber hat nichts damit zu tun. Aber man soll nicht vergeben, da man damit die Verantwortung übernähme. Es hat gut getan, die Bestätgung zu haben, dass ich nicht verantwortlich bin für das, was geschehen ist. Aber ich wollte keine Familie mehr haben. Den, der mich missbraucht hat, wollte ich nie wieder sehen und so ging ich auf kein Familienfest, an dem er war. (Auf der Beerdigung meiner Oma vor 3 Jahren hatte ich ihn zuletzt gesehen - das war der Horror) Es tauchten auch so immer wieder die Erinnerungen auf, die so sehr schmerzten.
Eine Freundin von mir ist Christin. Sie meinte, ich müsse meiner Familie vergeben, da das zwischen mir und Gott stünde. Das Vergeben-müssen war einer der Hauptgründe, mich nicht für das Christentum zu entscheiden. Aber dann hatte ich Träume, die nicht "normal" waren. Sie waren so voller Liebe, dass es mich schier umgehauen hat. Ich hab danach alles angezweifelt: die Liebe zu meinem Freund, mein Leben. "Zufällig" las ich ein Buch über Jesus (ich wusste nicht, dass es um ihn geht, als ich es kaufte - ein Roman) das mich ganz tief berührte. Da fing ich an zu beten. Dass ich ja gerne vergeben würde, es aber nicht kann! In der Zeit darauf entstand ein Bild in mir von einer heilen Familie. Und ich hatte immer mehr das Gefühl, dass ich vergeben könnte. Und dann kam die "Probe". Der Geburtstag von meiner Mutter, an dem alle da sein würden. Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, dort hinzugehen, da ein Treffen mit meiner Familie in mir immer das totale Chaos auslöste (für mindestens eine Woche). Also ging ich mit bangem Herzen hin - und doch fühlte ich mich getragen, in mir breitete sich jeden Tag neu so eine wahnsinnige Liebe aus, einfach unbeschreiblich. Der Tag war sooo schön! Ich konnte mit meiner Familie total ehrlich umgehen. Mein Opa bemerkte die ganze Zeit, dass ich ja nur strahlen würde. So als ob es ihn fast ärgern würde.
In einem Traum war ich in einem Schwimmbad. Ich war verletzt, doch plötzlich mussten alle ganz dringend weg. Nur einer kam zu mir und versorgte meine Wunden. Er versprach mir, dass er alle Wunden heilen würde. Das steht auch in der Bibel ; ) Und es stimmt!
Ich wünsche mir, dass ich mich besser in andere Menschen hineinversetzen kann. Es fällt mir schwer, mich mit anderen über etwas zu freuen, zu dem ich gar keinen Bezug habe, etwas, dass ich nie erlebt habe. Deswegen finde ich es auch nicht mehr schlimm, wenn meine Eltern sich nicht mit mir freuen, wenn ich zum Beispiel in einer Ferienwohnung in Dänemark Urlaub mache. Sie verbringen ihre Urlaube immer in Hotels im Süden und finden es toll, wenn sie am Strand neben hundert anderen liegen, denn "die Stühle stehen ja gar nicht so dicht nebeneinander, wie das jetzt auf dem Photo aussieht" ; ) Oder wenn sie meinen "Schwiegereltern" für ihren Urlaub wenig begeistert "die Erholung" wünschen, "die sie sich erhoffen" weil sie mit einem Radurlaub auf Island mit zelten nichts anfangen können - dann ist das schon ein ganz großer Schritt : ) Mir ist klarer geworden, dass unsere Leben sich sehr unterscheiden. Geld scheint in ihrem Leben das Wichtigste zu sein. Inzwischen glaube ich zu verstehen, warum. Mein Vater ist mit seiner Familie aus der DDR geflohen. Sie mussten in Westdeutschland nochmal ganz von vorne anfangen. Meine Mutter ist ein "Scheidungskind". Ich weiß nicht viel über das Leben meiner Eltern, aber sie wurde glaub ich auch geschlagen und viel Geld hatten sie nie. Und so versteh ich immer mal wieder ein Stückchen mehr, warum meine Eltern wohl so sind, wie sie sind. Vielleicht wär ich bei den gleichen Erfahrungen sehr ähnlich geworden?
Seitdem ich mehr Verständnis für sie habe, haben sie mehr Verständnis für mich. So scheint es mir. Und das, obwohl ich scheinbar total aus der Reihe tanze (gegenüber meinen Brüdern, meinen Verwandten - sie haben viel mehr ähnliche Ansichten wie meine Eltern).
Als meine Eltern mir vorhielten, dass ich sie in den Ruin treiben würde mit meinem Studium (beim letzten Weihnachtsfest, dass ich bei ihnen feierte, bestärkt durch meine Brüder ; ) hat mich das total aufgeregt, weil sie es sich trotz meines Studiums leisten konnten, viermal im Jahr in den Urlaub zu fliegen, jedes halbe Jahr ein neues Auto zu kaufen und sogar ihre gerade erst vor 5 Jahren neu gebaute Wohnung zu renovieren. Also lebten sie nicht wirklich kurz vor dem Ruin! Weißt du, was sie jetzt gemacht haben? Sie haben mir ein Laptop zum Examen geschenkt ; )
Ach so, es ist meine zweite Wohnung, die ich im Februar beziehen werde. Zum Studium konnte ich endlich von "Zuhause" ausziehen. Hab mich also schon ein bisschen dran gewöhnt : ) Allerdings ist das die erste Wohnung, die ich allein beziehe. Bis jetzt hab ich mit meinem Freund zusammen gewohnt, aber das geht jetzt nicht mehr.
Ich kann dich verstehen, dass du deinen Eltern lieber einen Brief schreiben wolltest, als mit ihnen persönlich zu reden. Und ich weiß nicht, was ich jetzt an deiner Stelle machen würde. Vielleicht kannst du versuchen, ihnen zu vergeben. Und ihnen nicht absichtlich aus dem Weg zu gehen. Ich denke, du magst jetzt grad nicht unbedingt Kontakt mit ihnen haben. Sie sollen den nächsten Schritt machen. Ich hoffe, dass sie das machen. Wenn deine Tochter das nächste Mal zu deinen Eltern mag, könntest du sie hinfahren und bei deinen Eltern klarstellen, dass du ihnen kein Kontaktverbot erteilen wolltest, sondern nur, dass du es in Ordnung fändest, wenn sie nach deinem Brief erstmal über alles nachdenken wollen.
Ich hatte mit meinem Vater vor kurzem noch eine Situation, die dir bekannt vorkommen dürfte. Ich wollte ein neues Konto eröffnen. Zusammen mit meinem Freund haben wir vor der Bank geparkt. Ich bat meinen Freund, mir kurz einen Kontoauszug aus meiner alten Bank zu holen, die direkt gegenüber lag. Mein Vater wollte (natürlich)
bei mir mit. Zu meinem Freund sagte er, er solle im Auto sitzen bleiben. Immer wieder. Wir verstanden nicht den Sinn dahinter, also ging mein Freund doch den Kontoauszug holen. Auf dem Weg in meine "neue" Bank meinte mein Vater: Dann kriegen wir jetzt vielleicht einen Strafzettel. Ich fragte ihn, warum er das nicht gleich gesagt habe. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir auf ihn gehört. Da meinte er nur "man muss nicht immer alles erklären". Ich weiß nicht, ob er es einleuchtend fand, als ich ihm erklärte, dass wir keine Gedanken lesen können ; )
Warum hast du eine Therapie angefangen? Weil du die Beziehung zu deinen Eltern verbessern möchtest?
Liebe Grüße,
vind