Liebe Lucille,
es ist unglaublich schwer, darauf eine Antwort zu geben. Wahrscheinlich geht es auch nur, wenn ich ein wenig aus dem Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir ein wenig beschreibe.
Zwei Dinge vorweg, die unsere Geschichte, glaube ich, bestimmt haben:
Sehr, sehr viele Leute verwechseln Bedürftigkeit mit Liebe. Meine Mutter hat mich Zeit ihres Lebens GEBRAUCHT. Und wenn ich jetzt in Deinem Post Desinteresse und Distanz lese, dann bekomme ich ein wenig den Verdacht, das meine Mutter sich nie für mich interessiert hat.
Obwohl ich sie ganz sicher mit nichts mehr verletzen könnte, als mit dieser "Unterstellung". Denn soweit es sie betrifft und es ihr bewusst ist, bin ich ihr ein und alles, und sie hätte ihr Leben lang immer alles für mich getan.
Und da fängt aber das Problem schon an. Ich wollte nicht, dass sie alles für mich tun würde. Sie war so sehr auf mich fixiert, dass es mich erdrückt hat.
Sie hat mir so oft vorgeworfen, dass ich mich nicht für sie interessiere, und dass ich ihr sowieso aus Prinzip immer widersprechen würde, und ihre Ansichten nie gut fände. (fand ich auch nicht). Sie und ich, wir sind unglaublich verschieden.
Weil sie der festen Überzeugung ist, dass man ausserhalb der eigenen Familie nicht schlecht über ein Familienmitglied spricht, hat sie sich immer bei mir über meinen Vater ausgekotzt - und als ich alt genug wurde um ihr zu sagen, dass sie damit bei mir nicht an der richtigen Adresse ist, war sie zutiefst beleidigt.
Ich war als Kind sehr introvertiert - sie fand mich nicht normal, hatte Angst, ich könnte autistisch sein. Noch heute erklärt sie mir immer wieder, sie hätte mich vielleicht einfach mehr zwingen sollen, Kontakt zu anderen haben, dann täte ich mir wohl heute leichter.
Mein Leben lang hat sie mir immer vorgeworfen, so distanziert wie mein Vater zu sein... sie ist auch der festen Überzeugung, mein Vater könne nicht über Gefühle reden - und wie er kann! (mit ihr kann ers nicht)
Wenn ich eine Woche auf Skikurs war, habe ich in dieser Zeit einen oder zwei lange Briefe mit Berichten von zu Hause bekommen.
Und wenn mein Vater auf Dienstreise war, hat sie mir vorgeschlagen, ich könne doch bei ihr schlafen. Erst als ich 18 war, ist mir aufgegangen, dass ich das nicht mehr möchte.
Zu ihr nein zu sagen, ist fast unmöglich - erst seit einem halben Jahr schaffe ich das - weil sofort der Vorwurf kommt, man würde sie nicht genug lieben. Gleichzeitig bekommt sie aber in solchen Situationen auch echte Panik, das merkt man.
In ihrer riesengroßen Bedürftigkeit nach Liebe konnte sie mir nie, nie Raum geben. Und in meinen Beziehungen habe ich immer das Thema, nie nein sagen zu können - aus Angst, der andere liebt mich dann nicht mehr.
Schwierig, das alles zu beschreiben.
Kannst Du was damit anfangen?
Dafür, wie die Gratwanderung ausgeht, ist vielleicht das zugrundeliegende Motiv entscheidend. Interessiere ich mich für mein Kind, so, wie es ist, als komplett eigenständige Person, die ganz anders sein kann als ich, so, wie der Partner auch? Oder "brauche" ich die bedingungslose Liebe, die kleine Kinder ihren Eltern entgegenbringen?
Kann ich mein Kind so wertschätzen, wie es ist, auch wenn es meine Bedürftigkeiten nicht füllt, und ich mich um diese selber kümmern muss?
Dieses Jahr Ostern ist es mir das ERSTE MAL in meinem ganzen Leben gelungen, etwas schönes und positives in meiner Mutter zu sehen.
lg
B.