Liebe Timmi,
Insofern habe ich mit meinem Brief nichts Gutes bewirkt. Mir selbst geht es besser, ohne Kontakt als mit dem Stress der vorher war. Aber das eigentliche Ziel, diese kranke Beziehung zu verändern, für alle besser zu machen, das habe ich nicht erreicht.
Du konntest nicht vorher wissen, was der Brief auslöst. Die Chancen standen 50:50. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Und wenn es dir momentan ohne den Kontakt besser geht, dass lass es auch mal eine Weile so.
Und ich sehe auch keinen Weg dorthin.
Es ist völlig in Ordnung, wenn du das jetzt so siehst. Erlaube dir diesen Gedanken. Ohne darunter zu leiden. Lass es aber offen, dass dieser Satz irgendwann nicht mehr zutrifft, setze dir aber kein Zeitlimit.
Ich hatte auch immer wieder Phasen, wo kein Kontakt war mit meinen Eltern. An eine Zeit erinnere ich mich, da gab es ein Drama (Suizidversuch) mit meiner Schwester, ich war da 28 Jahre alt, da warfen sie mir vor, die Schuldige zu sein an der Sache. Es geht bei solchen Sachen nicht um Schuld oder Nicht-Schuld. Aber meine Eltern hatten immense Schuldgefühle (hätte ich an ihrer Stelle eindeutig auch gehabt), und um davon abzulenken, beschuldigten sie mich. Das war so furchtbar für mich, weil ich das ihnen nie zugetraut hätte. Sogar mein Mann hat sich dann eingeschaltet. Er hatte sich immer zurück gehalten, was ich heute für eine kluge Entscheidung halte. Ich brach dann den Kontakt ab, einige Monate.
In einer anderen Situation, da war mein Vater mal alleine bei mir, kam von ihm auch ein Angriff in bezug auf meine Mutter, und da hatte ich das Bedürfnis, ihm zu sagen, wie ich die Sache sehe. Er erfuhr dann Dinge über meine Mutter, die er nicht wußte. Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei, aber ich sah, dass er aufgrund falscher Annahmen auch falsch interpretierte (da sehe ich Parallelen zu der Situation, in der ich grad wieder stecke, nun ist es aber mein Sohn - siehe anderer Thread). Und deshalb stellte ich richtig. Nun ja, er "petzte" das meiner Mutter, beim nächsten Mal warf er mir vor, ich hätte ihm das nicht erzählen dürfen, denn meine Mutter sei ausgeflippt und hätte mit Suizid gedroht. Dass er einfach nur seine Klappe hätte halten können, kam ihm nicht in den Sinn. Also nicht er war schuldig am Ausbruch meiner Mutter, sondern ich. Aber das konnte er nicht erkennen. Wir vereinbarten, dass ich mich mit meiner Mutter mal alleine treffe, bei mir zuhause. Sie kam, und ich spürte ihre Schuldgefühle. Da war also keine Wut auf mich, weil ich meinem Vater bestimmte Dinge "verraten" hatte, sondern einfach nur Schuldgefühle. Naja, wir eierten ein bißchen um uns rum, und als ich sie wieder an den Bahnhof fuhr, sagte ich ihr im Auto, dass ich mich von ihr als Kind nicht geliebt fühlte, und fing an zu weinen. Sie war total erschrocken, streichelte mich und sagte ganz liebe Worte. Ich glaube, in dem Moment wurde ihr vieles bewußt.
Mir fällt noch ein, dass ich meinem Lehrer mal einen ewig langen Brief geschrieben hatte, wo ich viele Dinge aus meiner Kindheit schilderte. Also Begebenheiten, die in der Schule vorfielen, wo ich negativ auffiel. Und die ich dann in Zusammhang brachte mit meiner schwierigen Situation im Elternhaus. Der Auslöser dieses Briefes war ein Klassentreffen, wo über früher gelacht wurde, aber auch Dinge wieder hochgeholt wurden, die ein jeder von uns angestellt hatte. I.d.R. kann man später über solche Dummheiten oder Verhaltensausrutscher lächeln oder lachen, aber ich fühlte mich auch im Nachhinein nicht verstanden. Da kam bei mir erst eine Wut hoch auf meinen Lehrer, dann schrieb ich diesen Brief zur Klarstellung (und grade merke ich, Reinfriedes Anmerkung im anderen Thread: ich wollte verstanden werden). Meine Eltern kamen darin denkbar schlecht weg. Und was war die Reaktion meines Lehrers? Bei der nächsten Begegnung sagte er nur: Du, dein Brief, da kann ich gar nichts dazu sagen. Das ist alles so tragisch. Da kann man gar nicht urteilen.
Mir imponierte eines: Mein Lehrer verurteilte meine Eltern nicht. Und darin sah ich eine ungeheure Chance für mich. Was ich sagen wollte, war draußen, und mein Gegenüber bestärkte mich nicht durch ein Urteil in meiner Wut. Er bemitleidete mich auch nicht. Auch nicht meine Eltern.
Heute mache ich einen großen Bogen um Menschen, die außer "Ach Gott, ist das schlimm" oder "Meine Güte, da musst du ja stark sein". Das bringt mir nichts.
Nochmal zu dir: Könnte es denn sein, dass deine Eltern gerade jetzt niemals von dir erwarten würden, dass du was Nettes sagst, schreibst oder tust? Egal was, nix großes, nur was ganz Kleines. Sowas kann ein totaler Überraschungseffekt sein.
Ich hab meine Eltern mal mit sowas überrumpelt, wo wir in der Übergangsphase waren, unwissentlich. Ich hatte einfach das Bedürfnis, ihnen was Nettes mitzubringen. Das mach ich ja bei Freundinnen auch, ohne irgendwelchen Anlaß oder dass ich ihnen sage: du, das hab ich neulich da und dort gesehen und an dich gedacht, das ist für dich. Mir wurde dann mal gewahr, dass ich sowas nie bei meinen Eltern mache. Und warum nicht? Weil ich von ihnen was erwartet hatte. Nämlich ein Schuldeingeständnis, eine Art Entschuldigung für das, was ich mit ihnen erleben musste. Ich war gefühlsmäßig immer so: Die müssen mir noch was geben, ich hab zu wenig gekriegt. Dabei hatte ich selber schon drei Kinder! Bei mir machte es klick nach dem Satz von meinem Lehrer "Ich habe es nicht geschafft.." Ich sagte mir: Moment, ich bin jetzt erwachsen, hab selber Familie. Ich kann nix mehr erwarten, das ist gelaufen. Aus mir ist trotzdem was geworden, ich kann stolz auf mich sein. Ich bin kein Kind mehr. Fing dann an, ihnen Kleinigkeiten mitzubringen, was ja nicht so furchtbar überrascht, wenn man jemanden besucht. Aber ich hatte dann auch was da für sie, wenn sie zu mir kamen, einen neuen Tee oder besondere Kekse, zum mit nach Hause nehmen. Die waren so platt und gerührt, dass ich ihnen was gebe. Oder Fotos zeige, oder von meiner neuen Errungenschaft für die Küche erzähle. Sie freuten sich, dass ich sie an meinem Leben teilhaben lasse. In Bereichen, die jeder mitkriegen kann, also nicht sehr persönliches, aber für sie war es viel.
Oh Timmi, das waren jetzt Gedankenergüsse. Ich hoffe, es geht dir nicht auf die Nerven.
Liebe Grüße, Solida